Konservierte Geschichte ohne Haltbarkeitsdatum

Es geschah im November 1989, die Berliner Mauer fiel, die Menschen lagen sich in den Armen, zwei Deutsche Staaten wuchsen wieder zusammen. Die verhasste Mauer als Teil der DDR-Grenzanlagen wurde abgerissen so schnell es ging, „Mauerspechte" sammelten Souvenirs und fast wäre es gelungen, diesen Teil der Deutschen Geschichte ganz in die Vergessenheit zu schicken.
Wenn da nicht ein paar freigeistige Künstler aus aller Welt nach und nach in Berlin aufgetaucht wären und sich auf grauem Beton verewigt hätten. Bereits im Dezember, also wenige Wochen nach dem Mauerfall, vereinigten sich die Kunstverbände Ost und West und beschlossen das erste gesamtdeutsche Kunstprojekt: Die Eastside Gallery.

Im Frühjahr 1990 bemalten im Stadtteil Friedrichshain 118 Künstler aus 21 Ländern das mit 1,3 km längste verbliebene Mauerstück. Es liegt entlang der Mühlenstraße zwischen Ostbahnhof und der berühmten Oberbaumbrücke, direkt an der Spree.
Der Fluß bildete hier die Grenze hinter der Mauer. Grenzsoldaten paßten stets auf, daß niemand der Mauer zu nahe kam.
Heute kommen sie alle: fassen an, fotografieren, flanieren ......

In den großformatigen Bildern spiegeln sich die Aufbruchstimmung und der Schrecken der Teilung wider. Geschichte sollte erlebbar sein.
Bereits 1991 wurde der bunte Mauerstreifen unter Denkmalschutz gestellt, um nachfolgenden Generationen zu vermitteln, zu welchen Verrücktheiten Menschen in der Lage sind. Sie sperren ein ganzes Land ein hinter Stein, Beton und Stacheldraht und schießen auf ihre Brüder. Wie könnte man das jemals vergessen?

Bald zeigte sich aber, daß weder Wind noch Wetter noch Sprayer sich viel um Denkmalschutz scheren. Der Beton bröckelte ab, die Bilder verblassten oder waren mit Graffiti übermalt. Nach einer ersten Sanierung im Jahr 2000 wurden die 106 Motive der längsten Open-Air-Gallerie der Welt zum 20. Jahrestag des Mauerfalls in diesem Jahr für knapp 1 Million Euro ordentlich aufgehübscht.
Das gefiel nicht allen. Künstler sind empfindsame Seelen und wenn ihre Farbe einfach abgekratzt wird, der Untergrund gespachtelt und geweißelt wird, um dann als jungfräulich reine Fläche für dasselbe Motiv erneut zur Verfügung zu stehen, dann verzichten einige auf die 3000 Euro Aufwandsentschädigung und lassen den Pinsel zu Hause. Die allermeisten aber kamen, um die bunte Sammlung politischer und poetischer Wandmalereien wieder in neuer Farbe erstrahlen zu lassen.
PHOENIX traf Fulvio Pinna bei der Arbeit an seinem Werk „Hymn to Joy".

Die Farben sind nun frisch aufgetragen, eine Speziallackversiegelung nimmt den Kampf gegen die Sprayer auf und doch ist neu nicht immer besser. Einige Künstler haben versucht, ihre Motive moderner zu gestalten. So ist der „Bruderkuss", das wohl berühmteste Bild des Mauerstreifens, heute fotorealistisch, während es in dem ursprünglichen spontanen Kunstwerk comicartig verfälscht war. Der Titel, den der sowjetische Maler Dimitrij Vrubel mitlieferte, ist allerdings erhalten geblieben und trifft heute wie damals wie ein Peitschenhieb: „Mein Gott, hilf mir, diese tödliche Liebe zu überleben!"


Danke an wikimedia-commons für das Foto

PHOENIX grübelt, wie lange die Eastside Gallery trotz Denkmalschutz wohl überleben wird. Der Senat bewilligte einer amerikanischen Firma, einen 45 Meter breiten Streifen aus der Mauer zu brechen, um einen direkten Zugang von ihrer Mehrzweck-Veranstaltungshalle O2-Arena zu einem Bootsanleger an der Spree zu schaffen.

Wer weiß? Irgendwann soll wohlmöglich die Straße verbreitert werden und dann fahren dort Autos, wo heute noch der Mauerrest steht. Wohl aber keine Trabbis wie in Birgit Kinders Werk „Test the Rest"

 

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